Mittelpunkt der Geschichte ist
ein junges Mädchen, eine Art modernes Rapunzel, eingesperrt
nicht in einen Turm, sondern in ihre Familie, deren Beziehungsgeflecht
sie einschnürt wie ein Strick.
Ihr Weg hinaus führt wie beim Grimmschen Rapunzel über
ihr Haar und über eine merkwürdige Krankheit,
die kaum erforscht und noch weniger bekannt ist: Trichophagie,
der Zwang, die eigenen Haare auszureißen und zu verschlucken.
Unverdaubar verstopft das immer dicker werdende Haarbüschel
die Gedärme, bis die Betroffenen im schlimmsten Fall
am 'Rapunzelsyndrom' sterben.
Im Mittelalter wurden diese Haarbüschel, sogenannte
'Bezoare', als wertvoller Fetisch angesehen und teilweise
in Gold gefasst. Diese Verbindung von mythischer Bedeutung
und extremem Körperbild ist die Grundlage der Erzählung.
Besonders die Bildwelten stehen deshalb im Vordergrund:
die Einverleibung, das Kannibalische, die mythisch erotische
Bedeutung des Haares, das zum Strick wird.
Und auch die Ableitung des Krankheits-Namens aus einem Märchen
macht deutlich, dass man sich bei der Darstellung und Gestaltung
dieser Störung auf Bilder einlassen muss, um sich ihr
zu nähern.
' Rapunzel' ist ein poetisches Psychogramm, der innere Monolog
eines Mädchens zwischen Einsamkeit, Langeweile, der
Verstörung beginnender Sexualität und dem Zwang,
ein Teil einer Familie zu sein, in der jeder mit dem anderen
verstrickt, aber niemand wirklich verbunden ist.
Rapunzel wählt den Strick aus eigenem Haar, um der
Familie zu entkommen, aber es ist keine Strickleiter, sondern
ein Galgen, kein äußerlicher, sondern ein innerlicher.
Rapunzel vertilgt das, was in der Familie stört, sie
frisst das Problem in sich hinein und sich selbst auf. |
Auszug aus dem Text Rapunzel
Über mir meine Knie. Zwei abgerundete,
weiße Stümpfe mit blondem Flaum. Hinter den Kuppen
gehen die Schienbeine weiter, auch wenn ich sie nicht sehen
kann. Ich fühle den Druck auf den Waden, das Kribbeln
im Fuß und vor allem den Schmerz in den Kniekehlen.
Dass da, wo etwas weh tut, auch etwas ist, das habe ich
längst verstanden. Ein einzelnes langes weißes
Haar wächst aus einem Leberfleck auf dem Oberschenkel.
Ich hebe den Kopf, krümme den Nacken, die Muskeln schließen
sich um meinen Hals wie ein Würgegriff und ziehen ihn
nach oben. Ich versuche, gegen das einzelne Haar zu pusten,
aber ich habe zu wenig Luft. Mein Oberkörper fällt
zurück und schwingt ganz leicht. Das Blut staut sich
im Kopf, pulsiert an den Schläfen. Wenn ich das Kinn
auf das Brustbein presse, kann ich oben im Dach das Gerippe
der Holzbalken sehen. Die Gaube mit dem kleinen Fenster
nicht. Dafür muss man stehen, und dazu ist es noch
zu früh. Ich schwinge leise weiter. Die Teppichstange
in den Kniekehlen ist jetzt nicht mehr kalt und noch nicht
schwitzig. Sie hält mich.
Das doppelt laute Brudertier, das Vierauge, das kleinste
Rudel, das die Tierwelt je gesehen hat, trampelt mit vier
Füßen herein. Zwei davon stellen sich auf mein
Haar. Es fällt von meinem Kopf herab und liegt rötlichblond
auf den Holzdielen des Dachbodens. Wenn ich mit dem Oberkörper
hin und her schwinge, beginnt es irgendwann zu fließen,
es wird immer mehr, bis es um mich herumbrandet wie Wellen
und ich mir vorstelle, wie ich, eine Nixe, mit dem silbrig
glänzenden Schwanz an einem großen Haken vor
einem Fleischergeschäft herabhänge, die Touristenattraktion,
die Brüste verrutscht, das Haar bis auf das Kopfsteinpflaster
hängend, wo es sich mit Abfällen und Blut voll
saugt wie ein Schwamm. (...) |
Rapunzelmonolog - das Musiktheaterstück
Uraufführung: 29. Februar 2008,
im Kesselhaus
Berlin, auf dem Gelände der Kulturbrauerei,
mit Unterstützung der Literaturwerkstatt.
Die Schülerin Katharina Bendig hat anlässlich
der Aufführung eine 28-seitige Facharbeit zum
Text Rapunzel geschrieben, die vom Lessing-Gymnasium
Uelzen mit 15 Punkten benotet wurde (1+). Ich finde
sie so gelungen, dass ich sie hier
als PDF-Download anbiete.
Während des Workshops "operare
07" der Zeitgenössischen Oper Berlin (2.5. bis 3.6.2007) wurde das Projekt "Rapunzelmonolog" ins
Leben gerufen und mit einem Realisierungspreis ausgezeichnet,
der die Ausarbeitung und die Uraufführung ermöglicht.
Text: Silke Andrea Schuemmer
Komposition: Alexandra Filonenko
Regie: Mascha
Pörzgen
Luftperfomance: Ellen
Urban
Schauspielerin: Ariane
Arcoja
Bühne / Kostüm: Lars Thun
Videoprojektionen: Paul Zoller
Musikalische Leitung: Adrian Pavlov
Orchester: Kairos-Quartett (Streichquartett)
Christine Paté (Akkordeon), Claudia Sgarbi (Schlagzeug)
Dauer: ca. 90 Minuten, keine Pause
Das Projekt entstand in Kooperation mit der Zeitgenössischen
Oper Berlin, der Consense Gesellschaft zur Förderung
von Kultur mbH und der Literaturwerkstatt Berlin
mit freundlicher Unterstützung der Senatsverwaltung
für Kultur.
Die Textgrundlage bildet die Erzählung Rapunzel,
die in assoziative musikalische und bildnerische Ebenen
eingebettet wird.
Die Komposition von Alexandra Filonenko transportiert
das Verschlungene, Verwobene, Kokonartige der Haare
und die klaustrophobische Atmosphäre der Situation.
Mascha Pörzgen inszeniert den Rapunzelmonolog mit
der Luftartistin Ellen Urban, die einzelne Aspekte
des Textes in Bewegung umsetzt, Emotionen und Phantasien
vergrößert. Die Schauspielerin Ariane Arcoja
spricht den Text in monologischer Form. Sie spielt
im Dialog mit der Musik, der Artistin und dem Raum,
die ihre inneren Zustände über den Text hinaus
spiegeln,
überhöhen und weitertreiben. |
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Interview von Boris Nitzsche (Literaturwerkstatt
Berlin) mit Silke Andrea Schuemmer, Alexandra Filonenko,
Mascha Poerzgen, Ellen Urban und Lars Thun (2007)
- Wie kam es zu dem Werk?
Mascha Poerzgen:
Kennen gelernt haben wir uns über einen Realisierungswettbewerb
der Zeitgenössischen Oper Berlin, operare. Da
wurden 44 Kreative unterschiedlichster Sparten zu einer
Art Marktplatz zusammengebracht, zu einer großen
Sammlung von Ideen. Silke hat bereits am ersten Tag
ihren Text vorgestellt, und wir sind direkt darauf
angesprungen.
Alexandra Filonenko:
Ich dachte sofort: Das ist ein Stoff für die Bühne,
aber es muss ein Musiktheater sein. Da war dieser Wahnsinn,
der mich ansprach. Ich wusste, dass meine Art zu komponieren
dazu passen würde. Das Bauchgefühl stimmte
einfach.
M. Pörzgen:
Ich fand das schon am ersten Tag interessant, aber
ich dachte, da sind jetzt sowieso alle dran. Deshalb
hab ich mich da gar nicht so reingekniet. Irgendwie
haben wir uns dann aber unterhalten, und ich hatte
sofort viele Ideen im Kopf. Am nächsten Tag
haben Alexandra und Silke mich dann gefragt, ob ich
mitmachen will. Alexandra
überzeugte mich dann, den Text in die Musik zu
integrieren, aber nicht in Form einer Oper, sondern
als Musiktheater, damit die Komplexität und die
Geschlossenheit des Textes besser hervortritt.
- Wie bist du auf das Thema Trichophagie
gekommen?
Silke Andrea Schuemmer:
Mich hat diese Überblendung von außen und
innen interessiert. Die Betroffenen verzehren sich
selbst, ihren eigenen Körper, sie fressen sich
im Grunde selbst auf. Im Körper bildet sich eine
Art Strick aus den unverdauten Haaren, was tödlich
sein kann. Sie drehen sich quasi ihren eigenen Strick,
aber nicht um sich daran aufzuhängen, sondern
dieser Strick ist im Körper selbst. Dazu kommen
noch diese kulturellen Hintergründe, die Mythen
um das Thema Haare, das Märchen Rapunzel. Ich
habe dann
über ein halbes Jahr an einer Perspektive gesucht,
denn ich wollte keine Krankheitsgeschichte schreiben,
ich wollte kein ewiges Lamentieren. Letztendlich habe
ich mich dann für einen inneren Monolog entschieden,
der aus einzelnen Szenen besteht.
- Ihr kommt alle aus unterschiedlichen
Kunstrichtungen, wie klappt da die Zusammenarbeit?
M. Pörzgen:
Die Konstellation ist großartig. Alle sind eigenständige
Künstlerpersönlichkeiten, die ich alle gut
finde. Da kann man auf Augenhöhe arbeiten, egal
ob das das Bühnenbild, das Schauspielen, die Luftartistik
oder die Videoarbeiten betrifft. Jeder ist in seinem
Bereich so gut, dass das ein sehr kreatives Arbeiten
ist.
- Wie setzt ihr den Text auf der Bühne
um?
M. Pörzgen:
Der Text erzeugt selbst sehr starke Bilder, was bei
der Umsetzung für die Bühne eine große
Herausforderung ist. Es geht darum, diese Bilder
nicht noch mal zu wiederholen oder zu doppeln, sondern
sie zu stützen, sie ins Extrem zu treiben.
A. Filonenko:
Für mich erfüllt sich etwas, von dem ich
schon lange geträumt habe: Musik für ein
Sprechtheater zu schaffen, so dass es ein Ganzes wird,
etwas Neues. Das Theater bietet eigene Möglichkeiten,
aber auch eine eigene Herausforderung: Im Theater kommt
die Energie, die in Neuer Musik steckt, erst richtig
deutlich hervor. Es ist dann Musik, aber eben nicht
nur. Hier müssen all ihre Möglichkeiten eingesetzt
werden, all die vielen Schichten und Ebenen, die Musik
bietet. Ich möchte zeigen, dass Neue Musik nicht
nur aktuell, sondern auch schön ist.
- Wie gehst du vor, wenn du die Musik
zu dem Text komponierst?
A. Filonenko:
Ich gehe sehr intuitiv vor, ich spiele das Stück
in meinem Kopf durch. Ich komponiere die Musik nicht
direkt am Text entlang, denn sie ist nicht einfach
nur Hintergrund und Stimmungsbild, sondern ein Teil
der Handlung, ein Kommentar. Sie greift in den Text
hinein. Die Musiker müssen dabei immer Kontakt
mit der Schauspielerin haben, mit ihr reden. Die Schauspielerin
kommentiert auch die Musik. Das Streichquartett und
Schlagzeug sowie Schauspielerin und Akkordeon bilden
zusammen einen Faden. In jedem Kapitel gibt es eine
andere Musik, aber das Streichquartett spielt ein durchgehendes
Leitmotiv. Dieser Faden fügen alle Kapitel zusammen.
Für die Sprechanlage musste ich mir auch etwas
Eigenes einfallen lassen. Ich brauche dazu einen Elektrobogen
für die Streicher, der die Seiten mit einen Laser
anreißt. Da bekommt man mit einfachen Mitteln
einen elektronischen Effekt, der stark raumfüllend
ist. Dazu werden dann noch Wassergongs eingesetzt.
Dass wir für die Umsetzung das Kairos-Quartett
gewinnen konnten, ist ein echter Glücksfall. Sie
sind einfach die Besten.
- Was hat es mit dieser Sprechanlage
auf sich?
S. A. Schuemmer:
Gerade diese Gegensprechanlage war für mich die
größte
Überraschung, denn das Motiv war eins, das ich
nicht hergeleitet habe. Das hat sich in den Text geschlichen,
weil ich die Mutter als erstes mit ihrer Stimme dahaben
wollte. Diese Mutter ist ja keine böse Hexe, im
Grunde ist das eine nette, bemühte Frau, die auch
ihre guten Seiten hat. Aber sie ist immer präsent.
Man kommt um sie nicht herum. Daher kam diese Gegensprechanlage,
die aber auch nur in eine Richtung funktioniert.
- Welche Anforderungen gibt es an das
Bühnenbild?
Lars Thun:
Das muss eine atmosphärische Bereicherung sein,
um diese Innere Welt wiederzuspiegeln. Es muss eine
innere Linie darstellen, in einem Gesamtkontext stehen.
Das ist eine Herausforderung, weil es nicht ein reines
Schauspiel ist, sondern aus vielen Elementen besteht.
Dafür muss erst mal Raum geschaffen werden. Man
braucht auch erst mal eine technische Lösung für
die Arbeit mit Ellen (der Luftartistin), dann allerdings öffnet
es den Bühnenraum. Es gibt eine neue Höhe,
eine neue Dimension.
Ellen Urban:
Das hat mich besonders gefreut, dass die anderen Teilnehmer
die Möglichkeit gesehen haben, die Luftartistik
mit einzubauen. Ich hatte das Gefühl, dass plötzlich
auch der Luftraum mit einbezogen wurde.
- Wie kam es zu der Idee mit der Luftchoreographie?
S.A. Schuemmer:
Ich hatte die Biografie von Ellen gelesen, und als
ich den Rapunzelmonolog geschrieben habe, hatte ich
immer eine Konstruktion mit Schnüren und Seilen
und Netzen im Kopf, da lag das nahe. Ellen ist auch
ein Glücksfall, weil sie kein Interesse daran
hat, hier eine Art Gala oder Zirkusnummer zu machen.
E. Urban:
Ich habe immer viel mit Tänzern gearbeitet. Ich
fand das interessant, weil ich da Aufgaben gestellt
bekomme aus einem anderen Bereich. Normalerweise wollen
die Leute immer das Spektakuläre sehen, aber in
diesen Produktionen ist das anders. Da bekomme ich
gesagt: bitte kein Zirkus. Das finde ich spannend.
In Rapunzel baue ich Stellungen ein, die Unbehagen
auslösen, zum Beispiel kopfüber aufgehängt.
Für die Zuschauer erzeugt das ein Unbehagen, ein
Schmerz. Ich weiß einfach, nach einer bestimmten
Zeit denken die Zuschauer: Mein Gott, tut das nicht
weh? |
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